„Vom Sterben und von der Einsamkeit“
von Andreas Falentin, theaterpur.net, November 2013, zur Premiere Studiobühne Köln
Zu Beginn intonieren sie vierstimmig ein getragenes Volkslied und hüllen den Raum in intensive Melancholie. Die wird die ganzen 70 Minuten bleiben. Eine Art atmosphärisches Bühnenbild. Dieses letzte Einhorn ist anders als das, was man von Candlelight Dynamite so kennt. Kein frei schwingender, archaischer, mit fantasievollsten, unaufwendigsten Mitteln herausgekitzelter Witz zum Zwecke des Erzählens an sich. Hier sind alle eingesetzten Mittel Diener einer tieftraurigen Geschichte mit einer Art Lieto Fine, aber ohne eigentliches Happy End.
Ein Einhorn lebt in einem Wald und erfährt durch einen Zufall, dass es das letzte seiner Art ist. Es macht sich auf die Suche nach seinen verschwundenen Geschlechtsgenossen, findet Begleiter, erfährt unter schmerzhaften Umständen und -wegen, dass diese vom Roten Stier ins Meer getrieben worden sind und kann sie schließlich befreien. Und geht in seinen Wald zurück, mit neuem Bewusstsein seiner Einsamkeit.
Das Ganze basiert auf dem 1968 erschienenen Fantasy-Roman von Peter S. Beagle, der viele aus der Mythen- und Sagenwelt entlehnte Motive enthält, aber auch viel Ironie – und überraschend viel Poesie. Die legt die Regisseurin Cornelia Schäfer bloß wie nebenbei. Mit einfachsten Mitteln und ohne Angst vor Pathos. Als Teil vieler Geschichten. Die kleine mit den schwatzenden Schmetterlingen. Die größere vom Zauberer Schmendrick, der erst in der Not zu seiner Begabung findet. Die große vom böse-depressiven König Hagarth, der nur Ruhe findet, wenn er auf die Brandung schaut, auf die Einhörner, die zu Schaumkronen geworden sind und von seinem schüchternen Sohn Lear, der unter der Omnipotenz seines Vaters leidet. Die witzige vom Räuberhauptmann Cully, der alles raubt, was ihm vor die Flinte kommt, aber tut als sei er Robin Hood. Und natürlich die vom Einhorn, von der Asozialität, die trotzdem Gutes tut, aber auch Wunden schlägt.
Die vielen schweren Themen, von der Einsamkeit, vom Sterben, vom Weltuntergang, vom Gutsein, vom Versagen und von der Welt, in der nur die Bösen und Dummen lachen, werden mit einer solchen theatralischen Selbstverständlichkeit aufbereitet, dass die vielen Kinder in der Premiere die ganz Zeit voll konzentriert dabei bleiben und am Ende ein Leuchten auf den Gesichtern haben.
Das liegt am Mut zum puren, manchmal fast unangenehm nackten Erzählen und am Umgang mit Raum, Licht und Requisiten, vor allem aber an der fast unheimlichen Vitalität der Schauspieler, die sich ganz auf ihre Körper, Gesichter und Stimmen verlassen. Denis Geyersbach ist fröhlicher Räuberhauptmann, schnaubender Stier und schüchterner Prinz, immer charmant, immer intensiv. Alessa Kordeck jagt einem als fiese Hexe, besonders aber als in sich gefangener König mit Krone und Handschuh mit größter sprachlicher Präzision Schauer über den Rücken. Insa Jebens spielt den Schmendrick ganz mit sich selbst beschäftigt und hinreißend nüchtern und Katharina Schmidt verleiht dem Einhorn mit leisem Charme eine bezwingende selbstgewisse, fast arrogante Verlorenheit.
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„Allein im Wald“
von Dorothea Marcus
Das letzte Einhorn in der studiobühneköln ist eine Koproduktion mit der Düsseldorfer/Berliner Gruppe Candlelight Dynamite. Regisseurin Cornelia Schäfer bringt in die Märchengeschichte von Peter S. Beagle einen melancholischen Hauch von Diskurstheater – das tut dem Stoff, der vor allem als kitschiger Zeichentrick-Film bekannt ist, sehr gut. Kinder ab acht Jahren haben auch ihre Freude.
Alles ersteht aus dem, was da ist. So könnte man die Arbeitsweise und den Charme von Candlelight Dynamite resümieren, die aus einfachsten Mitteln komplexe und stimmungsvolle Märchenatmosphären erstehen lassen – schon das wunderschöne, vierstimmige alte Volkslied zu Beginn gibt eine andere Welt vor. Katharina Schmidt ist das letzte Einhorn und man erkennt es sofort am graziösen Schütteln des Kopfes, der melancholischen Ernsthaftigkeit im Blick und dem Punkt auf der Stirn – ansonsten ist sie einfach weiß gekleidet und trägt ein grünes Tuch um die Hüfte und Ballettschuhen an den Füßen. Fast ein wenig zu atemlos, aber sehr lässig werden die – durchaus komplizierten – Texte von Beagle von den Darstellern abwechselnd gesprochen, während sich die Bühne und die Hauptfiguren immerzu verwandeln in diesem Fantasy-Roman von 1968.
BILDERWELTEN TROTZ WENIGER REQUISITEN
Die sprechenden Schmetterlinge, die dem Einhorn sein trauriges Schicksal offenbaren, das letzte seiner Art zu sein, sind auf Stöcke gesteckte Papier-Spielzeuge und können es doch mit jeder Animation aufnehmen, weil die Schauspieler sie mit intensiver Selbstverständlichkeit behandeln. Die Reise, auf die sich das Einhorn nun begibt, ist bunt und schlicht zugleich. Umstandslos und mit wenigen Requisiten werden die Rollen gewechselt – und erschaffen große Bilderwelten im Kopf. Wenn Allessa Kordeck als Räuberbraut Molly Grue ausgedient hat, wird sie einfach mit einer Mini-Puppe in gleicher Kleidung ersetzt – und setzt sich mit einer goldenen Papierkrone und Handschuh als strenger König Haggards auf den Papp-Thron. Der deprimierte, klarsichtige Übervater lässt sich so leicht nichts vormachen: er hat seinen Sohn, Prinzen Lin, voll im Griff und erkennt ein Einhorn auch, wenn es sich aus lauter Not in die Menschenfrau Lady Almathea verwandelt hat.
GEGEN DAS MENSCHSEIN UND DIE LIEBE
Diese Verwandlung gelingt Katharina Schmidt ausgesprochen gut: nur indem sie ihre Schuhe auszieht, den Punkt abwischt und den grünen Rock zum Kleid aufzieht, ersteht sie als Wesen aus Fleisch und Blut, das auf einmal zur Liebe fähig ist. Und auch Denis Geyersbach nimmt man alles ab: sowohl den coolen Räuberhauptmann als auch den schnaubenden Roten Stier, in rotes Licht getaucht, als auch den verliebten, schüchternen Königssohn. Nur Insa Jebens bleibt immer der unfähige, nüchterne, aber treue Jahrmarktsmagier Schmendrick mit einfältigem Blick und verzweifeltem Willen zur Karriere – erst in der größten Not schafft er es, wirklich zu zaubern. Die Geschichte ist dennoch traurig: das Einhorn entscheidet sich gegen die Liebe und das Menschsein und geht zurück in den Wald, im vollen Bewusstsein seiner Verlorenheit. Die Kinder sind den Weg atemlos mitgegangen – es braucht eben nicht immer Zeichentrickfilme.